Reinhard Mey

Das Foto Von Mir Auf Dem Tisch Songtext / Lyric


Reinhard Mey - Das Foto Von Mir Auf Dem Tisch Songtext


Das Foto vor mir auf dem Tisch

Ist längst vergilbt und altmodisch

In seinem jugendstilgeschwung'nen Rahmen

Ein kleines Mädchen jener Zeit

In einem weißen Spitzenkleid

So wie auf manch alten Bonbonreklamen

Ein kleiner, runder Kinderkopf

Ein rabenschwarzer Lockenschopf

Und große braune Augen, unbestritten

Meine eigenen Züge sind

Dem kleinen Mädchen, wie ich find'

Wie man so sagt, aus dem Gesicht geschnitten






Sie mag drei Jahr' sein, oder vier

Welch eine Reise liegt vor ihr

Welch langer Weg an ihrem Lebensmorgen

Freude und Leid der Kinderzeit

In Güte und Geborgenheit

Die Schule und damit die ersten Sorgen

Der Erste Weltkrieg bricht herein

Sie ziehen ihren Vater ein

Zum „ungedienten Landsturm“, wie sie's nennen

Ihn, dessen Hände zur Musik

Viel besser taugen als zum Krieg

Und sie lernt Hunger und Entbehrung kennen



Kriegsende, Elend, Inflation

Das Ende mancher Illusion

In Ungewissheit, Wirrwarr und Geschiebe

Der Mut zu einem Neubeginn

Die Ausbildung als Lehrerin

Die erste und gleich die ganz große Liebe

Die Feste in den Ateliers

Die Bälle, die Künstlercafés

Das Charlestonkleid, Stirnband und kurze Haare

Und jeder Tag und jede Nacht

Wird wie ein Feuerwerk entfacht

Es sind auch ihre „wilden zwanz'ger Jahre“



Die Jugendliebe wird ihr Mann

Im Beruf erkennt man sie an

Ihr erstes Kind, ein Mädchen, wird geboren

Doch Deutschland wird mobil gemacht

Und wieder senkt sich tiefe Nacht

Über die Welt, und alles ist verloren

Sie holen alle für den „Sieg“

Und auch ihr Mann muss in den Krieg

Sie selbst wird in Berlin zum Dienst verpflichtet

Und als der Bombenhagel fällt

Bringt sie mich eines Nachts zur Welt

Im Klinikflur, so hat sie's mir berichtet



Und nun wird Alles doppelt schwer

Allein in diesem Trümmermeer

Es geht nur noch darum zu überleben

Und dabei hat sie irgendwie

Auch wenn der Himmel Feuer spie

Mir Wärme und Geborgenheit gegeben

Und dann im zerbombten Berlin

Mit mir von Tür' zu Türe zieh'n

Manchmal gibt's was auf Lebensmittelkarten

Sich nicht verlier'n in dem Gewirr

'N Kelle Brei ins Kochgeschirr

Und wieder in endlosen Schlangen warten



Aus ihren Kleidern macht sie mir

Mantel und Rock, und wenn ich frier'

Briketts aus den letzten Habseligkeiten

Mit Liebe und aus nichts macht sie

Mir Spielzeug und mit Phantasie

Eine glückliche Zeit aus bitt'ren Zeiten

Zum Avus-Rennen mit mir geh'n

Nach Tempelhof, die Flieger seh'n

Im Kaufhaus stundenlang Rolltreppe fahren

Sie lehrt mich schwimmen und sogar

– Etwas verbot'ner Weise zwar –

Den Brezelkäfer fahren, mit zwölf Jahren



Und dann in meiner wilden Zeit

Stur wie ein Bock, mit allen Streit

Kein noch so guter Rat wird angenommen

Nur ihrer, so ganz nebenher

Sie lässt mir das Gefühl, als wär'

Ich zu der Einsicht ganz allein gekommen

Der erste eig'ne Weg ist schwer

Weiß nicht, wie oft ich noch heimkehr'

Mit vollem Herzen und mit leeren Taschen

Wie oft hat sie mir dann verdeckt

Manche Markfünfzig zugesteckt

Den Koffer gepackt und mein Zeug gewaschen



Nach Hause kommen, das tat gut!

Noch oft hat sie mir neuen Mut

Ideen und Begeisterung gegeben

Manch Beispiel von Großzügigkeit

Die Lebensfreude zum Geleit

Und manch gute Lektion blieb bei mir kleben

Heute fällt ihr das Sehen schwer

Die Augen sind so gut nicht mehr

Und sie hat Mühe ohne Glas zu lesen

Das Leben währet achzig Jahr

Sagt man, und wenn es köstlich war

Dann ist's, wie ihres, Müh' und Last gewesen



Die schwarzen Haare sind schlohweiß

Und so schließt sich der Bilder Kreis

Die sich für mich um ihr Kinderbild ranken

Auch wenn's gar nichts zur Sache tut:

Ich schwör's, besäß' ich einen Hut

Dann zög' ich ihn jetzt vor ihr in Gedanken

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